TimecodE

von Malte H.

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Interviewreihe "Chilenischer Metal" - Teil 2

Im Zuge eines Specials zur Metalszene in Chile, dem langgezogenen Land an der Westküste Südamerikas, haben sich diverse Metaller bereiterklärt, einen Fragebogen zum Leben in Chile, der hiesigen Metalszene und den Einflüssen und Umständen im Land zu beantworten.
In den nächsten Wochen werden wir nach und nach die Fragebögen für euch veröffentlichen, damit ihr euch selbst einen Überblick über die unterschiedlichen Sichtweisen der Bands verschaffen könnt. Des Weiteren wird es einen zusammenfassenden Artikel über die Szene geben, den ihr euch dann zu Gemüte führen könnt.

Zum ersten Teil: Sacramento

Im zweiten Teil der Reihe hat Victor Trujillo Radrigan, Bassist der Band TIMECODE, unsere Fragen beantwortet. Er lebt in Valparaiso, einer Stadt nordwestlich von Santiago, direkt an der Küste und weiß einiges über den Metal in Chile und außerhalb der Hauptstadt zu berichten.

 

Malte H.: Bitte stelle dich zu Beginn kurz vor:

Victor: Also, ich bin Victor, Bassist der Bands TIMECODE und GANGRENOUS. Ich komme aus Valparaiso und habe früher in Bands wie ORATEGOD, NECROSIS und TOTTEN KORPS gespielt. Zudem bin ich der Tontechniker von POEMA ARCANVS, DETHRONER und anderen chilenischen Bands.

Malte H.: Wie kamst du zum Metal?

Victor: In den frühen 90ern, als ich noch ein Kind war, hörte ich üblicherweise die verschiedenen Radiosender, wo Bands wie QUEEN, METALLICA oder chilenische Bands wie LOS PRISIONEROS den ganzen Tag lang gespielt wurden. Eines Tages kam ein Freund von mir mit CANNIBAL CORPSE' „Eaten Back to Life“-Tape bei mir vorbei und diese Scheibe hat meine Sicht auf die Musik verändert. Ich fing an Bands wie SLAYER, MORBID ANGEL, CARCASS und einige chilenische Bands wie TORTURER und TOTTEN KORPS zu hören.
Zusammen mit einigen Freunden starteten wir eine Band, doch niemand wusste, wie man ein Instrument spielt, also entschlossen wir uns dazu, es zu lernen, in meinem Fall Bass, Gitarre und Schlagzeug. Das ist nun 20 Jahre her und hier bin ich, immernoch wie ein Kind, das mit seinen Freunden spielt und seine eigene Musik kreiert.

Malte H.: Was ist deiner Meinung nach die Faszination des Metal? Und was ist deine Inspiration, genau solche Musik zu spielen?

Victor: Die Intensität, der Sound, die Geschwindigkeit. Zudem ist es ein Statement, sich davon wegzubewegen, ein „guter Bürger“ zu sein, eine Art Konfrontation. Aber wir sind eigentlich nette Leute.
Meine Inspiration rührt aus allem, was ich jeden Tag erlebe oder sehe. Der Stress der Großstadt, all die wütenden, erschöpften Leute, die Dinge erledigen müssen, die sie eigentlich gar nicht mögen, die Zusammenarbeit mit Arschlöchern… wir alle brauchen diese Momente, in denen wir unsere Gedanken aufräumen, den ganzen Scheiß rauslassen können, um mit frischer Kraft von neuem zu starten.

Malte H.: Chile ist ein sehr katholisches Land. Inwiefern beeinflusst das deine Wahl, Metal zu spielen?Victor Trujillo Radrigan

Victor: Nun, vielleicht ein wenig, meine Familie ist geteilt zwischen Katholiken und Atheisten, also kenne ich beide Seiten der Medaille. Aber wenn ich sehe, dass einige wichtige religiöse Personen Pinochets Verbrechen unterstützen, komme ich nicht umhin zu denken, dass Religion scheiße ist, aber auf der anderen Seite gibt es einige gute Menschen in der Kirche, die wichtige Hilfe für diejenigen leisten, die sie nötig haben, was auf der anderen Seite nicht schlecht ist. Es ist also wie immer: Die Menschen sind gut oder schlecht, nicht die Institution an sich.

Malte H.: Ich würde gerne wissen, wie Metal nach Chile kam. Gab es eine bestimmte Location oder eine bestimmte Band? Oder war es vielmehr so, dass irgendwer in Santiago angefangen hat, es zu spielen und von da verbreitete es sich wie eine Krankheit?

Victor: Ich bin mir da nicht wirklich sicher, aber ich denke, die Geschichte lief irgendwie so ab: In den frühen 80ern hatte Chile einige Hard Rock Bands wie AGUATURBIA, FEEDBACK und so weiter. Irgendwann finden einige Bands an, aggressivere Musik zu spielen und Bands wie z.B. MASSACRE, NECROSIS, DORSO oder PENTAGRAM begannen, Metal in Chile zu spielen. Es gab jedoch keine Locations, um live zu spielen, also nutzten sie die „Manuel Plaza“ Sporthalle, das war die erste Metal-Epoche in Chile, denke ich.
Dann, in den frühen 90ern, wurde eine neue Location, die sich „Sala Lautaro“ nannte, zum wichtigsten Ort dieser Tage und Bands wie TORTURER, TOTTEN KORPS, DEATH YELL und ATOMIC AGGRESSOR nutzen den Ort, um einige Gigs zu spielen. Das war wohl das zweite „Goldene Zeitalter“ chilenischen Metals.

Malte H.: Viele der Metal-Bands aus Chile scheinen sehr dunkel und extrem zu sein. In welcher Hinsicht haben die geographischen, historischen (z.B. die Diktatur von Pinochet in den 70ern und 80ern) und kulturellen Umstände in Chile Einfluss auf den chilenischen Metal-Stil genommen?

Victor: Als Gesellschaft sind wir komplett beeinflusst von der Diktatur Pinochets. Die ältesten Metalheads haben die Diktatur am eigenen Leib erfahren, denn lange Haare zu haben und Metal zu hören war für die Polizei eine regelrechte Beleidigung zu der Zeit. Auf der anderen Seite sah meine Generation, die damals noch im Kindesalter war, die Effekte der Diktatur an unseren Eltern. Niemand traute jemand anderem über den Weg, da jeder ein Spitzel der Regierung hätte sein können.
Die geographischen Umstände… nun, im Grunde genommen… wir sind von allem weit entfernt!!! Und wenn du nicht in Santiago lebst, dann ist es sogar noch schlimmer. Es ist möglich, dass all diese Dinge ein Markenzeichen für unsere Musik sind.

Malte H.: Wie ist die Infrastruktur der chilenischen Metalszene? Ist sie gut organisiert? Wie groß ist die Szene und wie sieht es mit Möglichkeiten aus, live auf Konzerten oder Festivals zu spielen?

Victor: Sehr schlecht, wir haben einige Orte, wo man spielen kann, doch die sind sehr klein und alles hat eher einen DIY (Do-It-Yourself, Anm. des. Verf.) Charakter. Die Metalheads gehen kaum zu Konzerten chilenischer Bands. Es gibt zwar große Festivals wie das „Metalfest” mit vielen Besuchern (über 6000), aber bei einem chilenischen Konzert, wenn man nicht gerade eine große Band wie POEMA ARCANVS oder DORSO ist, kann es vorkommen, dass man vor 50 Leuten spielt… wenn man Glück hat. Und auf dem Metalfest spielen… uff, es gibt viele Bands, die das gerne würden, und jede einzelne hat ihre eigenen Vorzüge.

Malte H.: Gibt es außer Australis Records noch andere große Labels in Chile? Und wie schwer ist es für eine chilenische Metalband, auf einem ausländischen Label unter Vertrag genommen zu werden?

Victor: Nun, es gibt ein paar Label, z.B. Chared Remains oder Rawforce, aber es ist aufgrund der geographischen Umstände schwierig, bei einem ausländischen Label gesigned zu werden. Wir sind zu weit von allem entfernt und auf einem ausländischen Label ist es wichtig, dass man sich einen Namen gemacht hat, oder noch besser, in Europa oder den Staaten touren kann.

Malte H.: Was sind, deiner Meinung nach, die typischen Trademarks chilenischer Metal-Bands?

Victor: Dunkle Melodien, DIY-Methoden, der Versuch, das Beste aus seiner Ausstattung zu machen, der Mangel an Zeit (der Kampf um Zeit zwischen der Arbeit, der Familie und der Band), dafür aber auch viel Energie und Hingabe, Musik zu machen.

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Malte H.: Welche sind die einflussreichsten chilenischen Metal-Bands?

Victor: PENTAGRAM (CHILE), ATOMIC AGGRESSOR, TORTURER, POEMA ARCANVS, UARAL, MAR DE GRISES, DEATH YELL, NECROSIS, INQUISICION.

Malte H.: Ich habe gehört, dass die chilenischen Metal-Fans die Verrücktesten in ganz Südamerika sein sollen. Kannst du erklären, wieso das so ist?

Victor: Aufgrund unserer Gesellschaft, wir brauchen ein Ventil und wir benutzen Metal-Konzerte dafür. Wie du bereits sagtest, ist Chile sehr katholisch, wir müssen uns jeden Tag damit auseinandersetzen, also müssen wir irgendwas machen, wenn wir in einem Moshpit sind, jajaja.

Malte H.: Werden Metalheads in der chilenischen Gesellschaft akzeptiert?

Victor: Heutzutage… ja. Wichtigstes Zeichen ist, dass man mit langen Haaren arbeiten kann. Noch vor einigen Jahren musste man nach deren Regeln spielen, mittlerweile werden Metalheads akzeptiert und als vollwertige Menschen angesehen. In den 80ern war es so: Warst du ein Metalheads, so wurdest du als verdammter, fauler Versager gesehen.

Malte H.: Wie ist deine Meinung zur südamerikanischen Metalszene im Allgemeinen?

Victor: Ich denke, die ist ziemlich zerteilt. Man weiß nur von einigen wenigen Bands aus anderen südamerikanischen Ländern. Aber das ist unsere Schuld und eine Schande.

Malte H.: Wie ist das Leben in Chile heutzutage? Im Human Development Index (HDI) der UN hat Chile einen guten Rank, den besten in Südamerika. Wie hat sich die Szene in den letzten Jahren verändert?

Victor: Die Politiker sagen, es sei wie in Europa zu leben, jajaja. Man hat eine Menge Bankkarten, um damit viele dumme Dinge anzustellen, die man hinterher bereut, jajaja. Aber das hat für die Metalszene eine gute Seite, da man bessere Instrumente haben kann, ich weiß aber nicht genau, ob das eher ein neuzeitliches Ding ist oder daran liegt, dass wir damals Kinder waren und kein eigenes Geld zur Verfügung hatten.
Die Preise an Instrumenten sind niedriger als noch vor 10 Jahren und ein Kind kann alles bekommen, was es braucht, um das Spielen zu beginnen. Nun haben auch die Locations eine bessere Ausstattung, im Gegenzug sind wir jedoch gestresster… vielleicht ist das auch eine Art Inspiration, jajaja.

Malte H.: Fühl dich frei, den folgenden Platz dafür zu nutzen, alles über Chile, Metal und sonstiges Zeug zu schreiben, was durch meine Fragen noch nicht beantwortet wurde. ;) Außerdem danke ich dir für die Zeit und die Informationen, die du mit mir geteilt hast, um einen Artikel über die Metalszene deines Landes schreiben zu können! Cheers!

Victor: Vielen Dank für dein Interesse in dieses kleine, aber lange Land. Wir haben einige Verbindungsprobleme, die Einwohner von Santiago denken, sie wären das gesamte Land. Dafür sind wir in einigen Orten in der Zeit gefangen, weniger Stress, aber auch schlechter verbunden.
Du musst hier leben, um einen wirklichen Eindruck davon zu kriegen, aber ich hoffe, dass du einen ersten Eindruck davon bekommen hast, wie wir sind und dass du vielleicht in ein paar Jahren unser Land besuchen und deine eigenen Erfahrungen sammeln kannst. Cheers!

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