Poema Arcanvs

von Malte H.

Poema Arcanus

Interviewreihe "Chilenischer Metal" - Teil 6

Im Zuge eines Specials zur Metalszene in Chile, dem langgezogenen Land an der Westküste Südamerikas, haben sich diverse Metaller bereiterklärt, einen Fragebogen zum Leben in Chile, der hiesigen Metalszene und den Einflüssen und Umständen im Land zu beantworten.
In den nächsten Wochen werden wir nach und nach die Fragebögen für euch veröffentlichen, damit ihr euch selbst einen Überblick über die unterschiedlichen Sichtweisen der Bands verschaffen könnt. Des Weiteren wird es einen zusammenfassenden Artikel über die Szene geben, den ihr euch dann zu Gemüte führen könnt.

Zum ersten Teil: Sacramento
Zum zweiten Teil: TimecodE
Zum dritten Teil:
Dorso
Zum vierten Teil: Folkheim
Zum fünften Teil: Entrospect

Den sechten Teil unserer Interviewreihe macht heute Igor Leiva, Gitarrist der Death / Doom Band POEMA ARCANVS, voll, der sich sehr viel Zeit für das Interview nahm und ausführlich auf die Fragen einging. Lest im Folgenden u. a., was es mit den Metal-Versammlungen in Santiago auf sich hatte und wie schwer es chilenische Metalheads zu Zeiten der Diktatur hatten.

 

Malte H.: Bitte stelle dich zu Beginn kurz vor:

Igor: Ich bin Igor Leiva, 38 Jahre alt und seit meinem 12. Lebensjahr ein Metalhead. Ich spiele seit 1991 in einer Band namens POEMA ARCANVS. Ich wurde in Santiago, der Hauptstadt Chiles, geboren und lebe immernoch hier.

Malte H.: Wie kamst du zum Metal?

Igor: Das alles begann, weil mein älterer Bruder total auf IRON MAIDEN abfuhr, als ich ein Kind war… dann sah ich all die Cover-Artworks, deren dunkles, böses Aussehen mich sehr angezogen hat. Aber es kam erst später dazu, als ich 11 oder 12 Jahre alt war, dass ich selber anfing, Metal zu hören.
Zuerst hörte ich all das Zeug, das man zu der Zeit so im Radio hören konnte, IRON MAIDEN / JUDAS PRIEST / SCORPIONS / AC-DC / ACCEPT und so. Nach einiger Zeit besuchte ich dann die Versammlungen, die Metalheads hier in Santiago jeden Samstag Morgen abhielten, um Sachen zu kaufen / zu verkaufen / zu tauschen.
Anfangs kannte ich natürlich niemanden und war nur dieses ahnungslose Kind, das versuchte, hart auszusehen (was auf miserable Weise misslang), aber dann lernte ich viele ältere Typen kennen, die mir Thrash Metal, Hardcore / Crossover und Death Metal zeigten. Alsbald begann ich, mit den Leuten lokale Konzerte zu besuchen (ohne die Erlaubnis meiner Eltern… haha) und das war quasi der Grund, wie ich in die Szene kam. Die Tage solcher Versammlungen sind lange vorbei, aber viele Freunde, die ich dort traf, sind auch heute noch Teil der Szene und wir sehen uns sehr oft bei Konzerten, in Bar, etc.

Malte H.: Was ist deiner Meinung nach die Faszination des Metal? Und was ist deine Inspiration, genau solche Musik zu spielen?

Igor: Dieses Gefühl von Stärke, das Metal einem gibt, ist für mich der hauptsächliche Anreiz. Obwohl ich auch andere Arten von Musik höre, ist es der Metal, der mir das Gefühl gibt, am besten mit all den beschissenen Dingen, die mich belasten, umgehen zu können. Sei es Wut, Frustration oder einfach nur Traurigkeit. Zudem ist es der Umstand, dass ich mich seit jeher mehr zu dunklen Ästhetiken, auch in Filmen, Literatur etc., verbunden fühle. Es ist also eine ganz normale Sache, dass ich solche Musik spielen muss, um meinen Verstand zu behalten.

Malte H.: Chile ist ein sehr katholisches Land. Inwiefern beeinflusst das deine Wahl, Metal zu spielen?Igor Leiva

Igor: Um ehrlich zu sein, nicht sehr viel. Obwohl Chile ein katholisches Land ist, insbesondere im Süden, ist es nicht so schlimm wie in anderen Ländern wie Mexiko oder Brasilien. Zudem hatte ich Glück, dass ich in Bezug auf Religion eine sehr moderate Familie hatte, und obwohl meine Mutter irgendwie an Gott glaubte, zwang sie mir das nie auf. Auch als ich für mich rausfand, dass ich weder an einen Gott noch an irgendeine Religion glaube, haben meine Eltern da keine große Sache draus gemacht. Daher betrifft mich dieses ganze „Rebellion gegen das Christentum“-Zeug nicht wirklich, da Religion in meiner Welt ziemlich irrelevant ist.
Aber klar, wenn du eine sehr religiöse Erziehung erfahren hast, dann ist es kein Wunder, dass dieses satanische / anti-christliche Image für dich als Weg erscheint, gegen dein Umfeld zu rebellieren, aber was mein Umfeld angeht, sind Gott / Jesus / Satan nur ein großer Haufen Mist, warum drum kümmern? Natürlich werden wir hier und da ein paar Bezüge zur Religion haben, jedoch mehr in einem sozio-politischen Denkansatz… wie bspw. die Religion das Leben und die Freude der Menschen zerstört.

Malte H.: Ich würde gerne wissen, wie Metal nach Chile kam. Gab es eine bestimmte Location oder eine bestimmte Band? Oder war es vielmehr so, dass irgendwer in Santiago angefangen hat, es zu spielen und von da verbreitete es sich wie eine Krankheit?

Igor: Ich denke, der extreme Metal kam von ein paar Leuten hier, die Kontakte nach Übersee hatten und somit die Chance besaßen, einige Aufnahmen hierher zu bringen und diese zu verteilen. Anton Reissenegger von der Death Metal Band PENTAGRAM (der nun auch in LOCK-UP spielt), war u. a. einer der ersten, der Bands gründete sowie Zines, Trading und Gigs startete. Das war so Mitte der 80er. Wie ich dir schon sagte, gab es an Samstagen diese riesigen Versammlungen von Metalheads (damals auch „Thrasher“ genannt), nahe des einzigen Plattenladens, der Metal-Zeug anbot. Da bekamst du dann Flyer für Konzerte, kauftest Demos, Zines, hast Musik getauscht oder hingst mit gleichgesinnten Leuten rum. Ich muss nicht erwähnen, dass es damals kein Internet gab, man MUSSTE also diese Versammlungen besuchen, um herauszufinden, was in der Metal-Welt so abging, sowohl lokal wie international. Und das alles geschah während der letzten Jahre der Diktatur, es kam also häufig vor, dass die Polizei auftauchte und wir vor denen flüchten mussten, nur aufgrund dessen, wie wir aussahen. Ich fing 1988 an, diese Versammlungen und Konzerte zu besuchen, ich erlebte also die letzten Jahre dieser „Metal Community“, die es gab.
Es gab auch einige Radio Shows, die damals Metal spielten… Es gab diese Show am Sonntag Nachmittag, die sich „Musica a Otro Nivel“ („Musik auf einem anderen Level“) nannte und die neusten Metal Alben komplett am Stück spielte. Man wartete also mit seinem Kassettenrecorder und einer leeren Kassette vor dem Radio und nahm das Album auf, eilte danach zum Plattenladen, suchte nach der Vinyl des Albums und schrieb sich die Songtitel auf… haha. Ich habe das sehr oft so gemacht, denn als Kind hatte ich leider nicht das Geld, um mir die Platten selber zu kaufen.
Konzerte gab es damals meistens weder in Clubs noch in Bars (es gab damals auch gar keine Metal Bars, da alles sehr klein und underground war), sondern in dekadenten Sporthallen oder Theatern, welche die Organisatoren irgendwie billig mieten konnten, und das Publikum war für das, was es damals war, ziemlich groß (500 bis 3000 Leute für einen Haufen lokaler Thrash / Crossover / Death Metal Bands). Auch hier war es keine Überraschung, wenn plötzlich die Polizei auf der Matte stand, das Konzert sprengte und Leute festnahm.
Die größte Band zur dieser Zeit war wohl PENTAGRAM, die, gemessen an der Zeit damals, eine sehr innovative Form des Death Metal spielten und es zu einer Kult-Band in der internationalen Tape Trading Szene schafften. Sie lösten sich 1988 auf, haben aber kürzlich ein neues Album via Cyclone Empire Records veröffentlicht, das ziemlich geil ist (zum Review, Anm. d. Verf.). Auch Bands wie DORSO, WARPATH, MASSAKRE, NECROSIS und noch ein paar andere Bands starteten diese Bewegung in den 80ern.

Malte H.: Viele der Metal-Bands aus Chile scheinen sehr dunkel und extrem zu sein. In welcher Hinsicht haben die geographischen, historischen (z.B. die Diktatur von Pinochet in den 70ern und 80ern) und kulturellen Umstände in Chile Einfluss auf den chilenischen Metal-Stil genommen?

Igor: Nun, natürlich hat unsere jüngste Vergangenheit einen Einfluss darauf, wie sich der Metal hier entwickelt hat, da er die ganze Zeit eine Art Rebellion gegen unser sozio-politisches Umfeld war, in dem alles, was irgendwie als „sonderbar“ angesehen wurde, nicht akzeptiert und sogar so gut es ging unterdrückt wurde. Unsere Diktatur hatte eine Doppelmoral, die sehr stark vom konservativem Katholizismus beeinflusst war. Es war nicht erlaubt, etwas gegen die Religion zu sagen und so wurde dieser rebellische Charakter eines der Markenzeichen unserer Szene, daher entwickelte sich die Musik in diese Richtung.
Die geographische Isolation zwischen dem Pazifischen Ozean und den Anden zuzüglich der großen Wüste im Norden und dem Ende der Welt im Süden hat ebenfalls einen großen Einfluss auf unsere Sicht auf die Welt, etwas, das sich sicherlich in der Musik widerspiegelt, die hier geschaffen wird.

Malte H.: Wie ist die Infrastruktur der chilenischen Metalszene? Ist sie gut organisiert? Wie groß ist die Szene und wie sieht es mit Möglichkeiten aus, live auf Konzerten oder Festivals zu spielen?

Igor: Zuerst einmal muss ich sagen, dass es nirgendwo so professionell und so gut organisiert ist wie in Deutschland. Ich meine, wir haben sehr regelmäßig Konzerte hier, aber die technischen Bedingungen schwanken meist sehr stark. Manchmal sind sie gut, manchmal nicht so gut, manchmal beschissen. Alles wird eher im DIY-Stil (Do-It-Yourself, Anm. d. Verf.) erledigt und es gibt keine „Industrie“, um es so zu sagen. Auf der anderen Seite ist die Szene recht groß, man sieht Leute auf der Straße, die Metal Shirts tragen, und größere internationale Acts ziehen viele Menschen an (IRON MAIDEN spielen für gewöhnlich vor 60.000 Leuten, wenn sie hier sind). Der lokale Bereich ist allerdings ziemlicher Underground, wo im Grunde genommen jeder jeden kennt und die Besucherzahl von Gigs kommt selten über die 200er Marke.
Diese Festival-Sache ist für uns relativ neu, da wir erst seit 2 Jahren ein 2-tägiges Festival mit internationalen Bands und auch einigen lokalen Bands haben, wo recht gute technische Bedingungen herrschen und das Publikum vergleichsweise groß ist. Aber wie das hier nun mal so ist, werden lokale Bands nicht bezahlt, es gibt also noch einiges zu tun und zu perfektionieren… aber es ist immerhin ein Anfang.

Igor LeivaMalte H.: Gibt es außer Australis Records noch andere große Labels in Chile? Und wie schwer ist es für eine chilenische Metalband, auf einem ausländischen Label unter Vertrag genommen zu werden?

Igor: Es gibt noch weitere Labels, z.B. Rawforce Productions, das sich heutzutage mehr auf den Vertrieb konzentriert, und in der eher satanischen Underground Black / Thrash / Death Metal Szene haben wir Apocalyptic Productions, Proselytism und einige andere, die ich vergessen habe, die alles von Demos bis Full Length Alben der eher „okkulten“ Metal Bands veröffentlichen.
Für chilenische Bands ist es eigentlich heutzutage nicht mehr so schwer, von ausländischen Bands unter Vertrag genommen zu werden, solange es sich um kleine Underground-Labels handelt, was hauptsächlich natürlich an der Globalisierung liegt. Es gibt sogar ein großes Interesse an chilenischen Black / Thrash / Death Metal Bands, weißt du. Zumindest solange sie ein dunkles, böses Image aufrechterhalten. Es scheint so, als suchen viele Leute von außerhalb Südamerikas nach diesem bösen, rohen Sound / Image, den Bands wie SARCOFAGO und ähnliche geprägt haben. Einen Sound, der ursprünglich eine unerwünschte Konsequenz der massiv schlechten Aufnahmebedingungen der damaligen Zeit war, was jedoch darin endete, eine komplett neue Ästhetik erschaffen zu haben, die heutzutage ziemlich erfolgreich zu sein scheint, insbesondere in Europa, wo diese Rohheit als etwas „exotisches“ angesehen wird, denke ich.

Malte H.: Was sind, deiner Meinung nach, die typischen Trademarks chilenischer Metal-Bands?

Igor: Um ehrlich zu sein, bin ich zu nahe an der Szene dran, denke ich, und daher fehlt mir der weite Überblick um sowas wie ein Markenzeichen erkennen zu können. Es gibt hier so viele verschiedene Bands mit so vielen verschiedenen Stilen, dass es schwierig ist, etwas Gemeinsames zwischen denen zu finden.
Wenn überhaupt, dann ist es die Tatsache, dass die meisten Bands hier, im Gegensatz zu Europa, ihre Musik spielen und genau wissen, dass sie es höchstwahrscheinlich nie „schaffen werden“, also keine Karriere starten und von ihrer metallischen Musik leben können. Das gibt uns den totalen kreativen Freiraum und eine kompromisslose Attitüde gegenüber unserer Musik. Es gibt hier sozusagen keinen „Markt“ und lokale Labels würden sich niemals in die kreativen Entscheidungen ihrer Bands einmischen, da niemand hier großen kommerziellen Erfolg erwarten kann. Was also auf der einen Seite als schlechte Sache angesehen werden kann (der Mangel an Professionalität), ist auf der anderen Seite eine Garantie für Authentizität innerhalb der Musik.
Natürlich gibt es dennoch Bands, die auf den neusten Trend-Zug aufspringen, aber das sind eher die jüngeren Bands und sobald sie realisiert haben, dass sie weder Geld noch Ruhm erlangen können, hören sie einfach auf oder fangen an, für sich selber und nicht für das Publikum zu spielen.

Malte H.: Welche sind die einflussreichsten chilenischen Metal-Bands?

Igor: Ich denke in erster Linie sind das PENTAGRAM, da sie so viele Innovationen in die Szene brachten, internationalen Kultstatus genießen und bis zum heutigen Tag als Ikonen gelten, da auch viele jüngere Kids noch ihre Musik hören.
Auch DORSO gehören dazu, die von Anfang an dabei sind und immer eine ungewöhnliche musikalische Identität besaßen, indem sie alle Arten von Musik kombinierten, von Prog, Heavy, Thrash, Death Metal bis sogar hin zu Folk Musik. Ihre Lyrics repräsentieren einen Großteil unserer kulturellen Identität, wenn auch aus einer sehr morbiden Sichtweise (die handeln hauptsächlich von Horror-Zeug vermischt mit lokalem Humor, Gore, Volkssagen, UFOs etc.).
ATOMIC AGGRESSOR sind ebenfalls eine einflussreiche Metal Band, da sie eine der wichtigsten Bands der zweiten Welle an Death Metal in den frühen 90ern waren und bis zum heutigen Tag noch mit großem Erfolg spielen.
MAR DE GRISES sind ebenfalls eine sehr wichtige Band, da sie im internationalen Kontext viel erreicht haben (sie waren bei Season of Mist unter Vertrag und sind viermal durch Europa getourt). Aber am einflussreichsten waren sie wegen der außergewöhnlichen Musik, die sie entwickelt haben. Leider haben sie sich vor gar nicht langer Zeit aufgelöst. Sie sind meine liebste chilenische Metal Band aller Zeiten.
Es gibt noch viele weitere Bands, aber ich denke, diese hier sind die essentiellsten.

Malte H.: Ich habe gehört, dass die chilenischen Metal-Fans die Verrücktesten in ganz Südamerika sein sollen. Kannst du erklären, wieso das so ist?

Igor: Wie ich dir in einer vorherigen Antwort schon sagte, ist alles irgendwie auf Rebellion als Resultat unserer unterdrückten Gesellschaft ausgelegt. Metalheads wurden nie wirklich in dieser Gesellschaft akzeptiert, was dazu führt, dass wir, wenn wir die Chance haben und wenn wir bei Konzerten sind, immer das Beste aus der Sache machen wollen. Ich erinnere mich daran, wie ich mit einer österreichischen Freundin von mir zu einem großen Metalkonzert in Santiago gegangen bin, und sie war von der Vielzahl an Polizei-Trucks, die vor der Halle standen, schockiert. Nur weil es sich um ein Metal-Konzert handelte. Wir sind das total gewohnt und es gibt immer diese Spannungen zwischen den Metalheads und der Polizei, aber so läuft das nun mal in Chile.
Ich denke, wir haben auch einen gewissen Stolz darauf, als so verrückt zu gelten und wir sind uns bewusst, dass wir ein wichtiger Teil der Show sind und wir fühlen uns dafür auch verantwortlich… hahaha… Ich meine, wenn wir auf einem, sagen wir mal, TESTAMENT-Konzert sind, dann wird die Qualität der Show einerseits daran gemessen, wie gut die Band selbst war, aber auch, wie verrückt es im Moshpit zuging und wie laut das Publikum war. Die Band hätte einen perfekten Auftritt hinlegen können, aber wenn das Publikum lahm gewesen wäre, dann war das für uns kein 100%ig guter Gig.

Malte H.: Werden Metalheads in der chilenischen Gesellschaft akzeptiert?

Igor: Heutzutage ein bisschen mehr, aber eher deswegen, weil wir alle älter werden und viele von uns einen „respektablen Job“, Familie und den ganzen anderen Mist haben. Viele der „normalen“ Leute haben sich daran gewöhnt, diese Freaks in schwarzen Shirts zu sehen und keine Angst vor ihnen haben zu müssen… haha. In der Vergangenheit wurden wir als ein Haufen verrückter, ausgestoßener, brutaler Kids angesehen.
Wie auch immer, die Mainstream-Medien ignorieren uns immernoch, abgesehen von den raren, sehr dummen und stereotypischen Berichten hier und da, aber um ehrlich zu sein, bevorzuge ich es so.

Poema Arcanus

Malte H.: Wie ist deine Meinung zur südamerikanischen Metalszene im Allgemeinen?

Igor: Es gibt in jedem Genre jede Menge hochqualitative Bands, aber es fehlt die Verbindung untereinander… es ist nicht üblich, dass südamerikanische Bands durch Südamerika touren, so komisch das für dich klingen mag. Der bereits erwähnte Mangel an Professionalität und die großen Distanzen von einer Stadt zur nächsten machen die Sache noch schwieriger. Auch sorgt die fehlende Verbindung untereinander dafür, dass es für südamerikanische Bands schwer ist, in anderen Ländern des Kontinents bekannt zu werden. Es ist ein Teufelskreis. Das Internet hilft natürlich dabei, dass alles aufzuheben, aber es wartet noch viel Arbeit.

Malte H.: Wie ist das Leben in Chile heutzutage? Im Human Development Index (HDI) der UN hat Chile einen guten Rank, den besten in Südamerika. Wie hat sich die Szene in den letzten Jahren verändert?

Igor: Das ist für mich schwierig zu sagen… Natürlich gibt es viele Vorzüge, hier zu leben, die meisten nehme ich wahrscheinlich gar nicht zu 100% wahr, aber ich denke, wir haben immernoch eine Vielzahl an Problemen in unserer Gesellschaft, wie z.B. der Mangel an Gleichberechtigung und die große Lücke zwischen armen und reichen Menschen. Die makroökonomischen Zahlen mögen vielleicht sehr gut aussehen, aber dahinter verbergen sich dreckige, reiche Leute, die das Land beherrschen und eine große, arme, ungebildete Masse, die nichts von dem angeblichen Wohlstand, den wir hier haben, sieht.
Natürlich geht es uns nicht annähernd so schlecht wie anderen südamerikanischen Ländern und Chile ist nach wie vor ein relativ friedliches Land… Wir hatten keine wichtigen Kriege oder Guerrillas oder sonst was in der Art seit der Einführung der Demokratie, aber es gibt ein brutales neoliberales System, das dafür sorgt, dass ausreichende Bildung, Gesundheit und eine annehmbare Wohnsituation für arme Leute unerreichbar erscheinen. Das sorgt für ein langsam wachsendes Klima an Gewalt und Kriminalität. Und natürlich scheren sich die Mächtigen des Landes einen Dreck darum, die wollen nur mehr Polizei auf den Straßen sehen anstatt die Wurzel des Problems anzugehen, da diese Wurzel in ihrer eigenen Gier liegt.
Die Szene hat sich in den letzten 10 Jahren insofern verändert, als dass es nun viel mehr Bands gibt, deren „technische“ Qualitäten extrem gewachsen sind. Das, so denke ich, liegt daran, dass wir nun leichter Zugriff zu guten Instrumenten, Aufnahmeequipment etc. haben und auch das Internet dafür sorgt, dass Wissen leichter zugänglich gemacht wird, um bspw. ein schreddernder Gitarrist werden zu können.
Es ist aber auch so, dass es bei so vielen Bands schwieriger wird, einen Raum zu bekommen, um die eigene Musik zu präsentieren. Hatten wir in der Vergangenheit in Santiago einen lokalen Gig alle 2 Wochen, haben wir nun 3 oder 4 verschiedene Gigs in einer Nacht, wodurch das Publikum selbstverständlich schrumpft, aber ich habe das Gefühl, dass das nicht nur hier so ist.

Malte H.: Fühl dich frei, den folgenden Platz dafür zu nutzen, alles über Chile, Metal und sonstiges Zeug zu schreiben, was durch meine Fragen noch nicht beantwortet wurde. ;) Außerdem danke ich dir für die Zeit und die Informationen, die du mit mir geteilt hast, um einen Artikel über die Metalszene deines Landes schreiben zu können! Cheers!

Igor: Wow, ich denke, ich habe bereits das meiste abgedeckt. Vielleicht sollte ich noch klarstellen, dass sich meine Vergleiche bezüglich der europäischen / deutschen Szene aus den Eindrücken und Erfahrungen, die ich während unserer Tour 2012 und einigen anderen Besuchen gesammelt habe, zusammensetzen und daher total befangen und vielleicht etwas oder gar komplett falsch sein können.
Nun, abschließend möchte ich mich einfach nur noch bei euch für das Interesse an unserer Szene am Ende der Welt bedanken. Es war mir eine Freude und Ehre, das hier zu beantworten. Cheers!

 

Zum Review von "Transient Chronicles"

Zum Interview mit Luis Moya

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