Lapsus Dei

von Malte H.

Lapsus Dei

Interviewreihe "Chilenischer Metal" - Teil 8

Im Zuge eines Specials zur Metalszene in Chile, dem langgezogenen Land an der Westküste Südamerikas, haben sich diverse Metaller bereiterklärt, einen Fragebogen zum Leben in Chile, der hiesigen Metalszene und den Einflüssen und Umständen im Land zu beantworten.
In den nächsten Wochen werden wir nach und nach die Fragebögen für euch veröffentlichen, damit ihr euch selbst einen Überblick über die unterschiedlichen Sichtweisen der Bands verschaffen könnt. Des Weiteren wird es einen zusammenfassenden Artikel über die Szene geben, den ihr euch dann zu Gemüte führen könnt.

Zum ersten Teil: Sacramento
Zum zweiten Teil: TimecodE
Zum dritten Teil:
Dorso
Zum vierten Teil: Folkheim
Zum fünften Teil: Entrospect
Zum sechsten Teil: Poema Arcanvs
Zum siebten Teil: Necrosis

Den achten Teil unserer Interviewreihe bestreitet heute Julio Leiva, Sänger der Death Doom Band LAPSUS DEI. Mit seinen 22 Jahren ist er einer der jüngsten Interviewpartner und vermittelt euch einen Einblick, wie die Metalszene in Chile aus Sicht der jüngeren Generation gesehen wird.

 

Malte H.: Bitte stelle dich zu Beginn kurz vor:

Julio: Ich bin Julio Leiva, 22 Jahre alter Metal-Sänger und Student aus Santiago, Chile. Ich bin seit 2011 Mitglied der Death Doom Metal Band LAPSUS DEI.

Malte H.: Wie kamst du zum Metal?

Julio: Vor langer Zeit (vielleicht vor 11 oder 12 Jahren), als ich noch ein Kind war, klaute ich meinem Cousin ein METALLICA-Album. Ich war schon die ganze Zeit an dieser lauten und manchmal melancholischen Musik interessiert, die von den Tapes und CDs kam, also klaute ich „Master of Puppets“ und da beginnt die Geschichte. Ein Jahr später erlangte ich Zugang zu diesem schieren Ozean an Musik im Internet und so wurde ich großer Fan des Genres.

Malte H.: Was ist deiner Meinung nach die Faszination des Metal? Und was ist deine Inspiration, genau solche Musik zu spielen?

Julio: Meine erste Faszination waren dieser laute Sound und die Kraft, die jedem Power Chord innewohnt. Dann fing ich an, Gitarre in einer Schulband zu spielen, wo ich diese Energie spürte, die zwischen jedem Musiker besteht, und ich verliebte mich in die Musik im Allgemeinen. Ich denke, Metal ist die stärkste Form „harter“ Musik und es ist die Form, wo man den ganzen Scheiß dieser Welt nehmen, einen Song drüber schreiben und jede Faser von Stress zerstören kann. Zudem ist Metal eine der besten Sprachen, um seine Gefühle mitzuteilen und Doom Metal ist die Nummer 1, wenn es darum geht, die dunkelsten Gefühle auszudrücken und in einem Song zu verpacken.

Malte H.: Chile ist ein sehr katholisches Land. Inwiefern beeinflusst das deine Wahl, Metal zu spielen?

Julio: Ich denke, heutzutage ist Chile gar nicht mehr so katholisch. Die katholische Kirche ist zwar die größteJulio Leiva religiöse Organisation im Land, und vielleicht auch die mächtigste, aber das Land ist voller Blasphemisten (hahaha). Es ist auf gewisse Weise wie in den USA, denke ich. Jeden Tag denken mehr Menschen, dass die katholische Kirche wie eine Mafia ist und sie wechseln zu anderen Religionen oder werden zu Atheisten, aber das Christentum der älteren Generationen ist stets ein großer Einfluss in der Moral des Landes.
Meine Familie ist ein gutes Beispiel für eine „Chilenisch-katholische Familie“, einige meiner Verwandten waren Mitglieder einer lokalen Kirche und einige andere glaubten einfach nur an Gott und kümmerten sich einen Dreck um die Kirche, ich wuchs also als Gottgläubiger auf, aber mit der Zeit kamen die Zweifel Hand in Hand mit meinem wissenschaftlichen Wissen und Black Metal, also begann ich damit, antichristliche Musik zu schreiben und zu spielen, weil ich denke, dass das Christentum nur ein falscher Weg ist, das Leben und die Natur zu sehen, und es der beste Weg ist, ein konformer Idiot zu werden.

Malte H.: Ich würde gerne wissen, wie Metal nach Chile kam. Gab es eine bestimmte Location oder eine bestimmte Band? Oder war es vielmehr so, dass irgendwer in Santiago angefangen hat, es zu spielen und von da verbreitete es sich wie eine Krankheit?

Julio: Was das angeht bin ich kein Experte, aber ich denke, dass die große Metal Welle hier in den frühen / mittleren 80ern mit der Thrash Metal Explosion in den USA (die „Big 4“) und der NWOBHM einsetzte, von denen Bands wie PENTAGRAM (CHILE), DORSO, WARPATH, ATOMIC AGGRESSOR, SQUAD, NECROSIS etc. gegründet und beeinflusst und selber zum Haupteinfluss für lokalen Extreme Metal wurden. Denk auch dran, dass Chile zu der Zeit unter einer Diktatur litt - die dunkle und perfekte Zeit für sowas wie eine kulturelle Revolution mit sozial-wütendem Inhalt.
Ich kann nichts zum Thema Locations und so sagen, da ich aus der jüngeren Genereation chilenischer Headbanger stamme, aber auch ich bin beeinflusst von den Bands, die ich zuvor nannte.
Es gibt auch einige Veröffentlichungen über die Geburt des Metal in Chile, wie bspw. „PÁJAROS NEGROS: Crónicas del Heavy Metal Chileno”.

Malte H.: Viele der Metal-Bands aus Chile scheinen sehr dunkel und extrem zu sein. In welcher Hinsicht haben die geographischen, historischen (z.B. die Diktatur von Pinochet in den 70ern und 80ern) und kulturellen Umstände in Chile Einfluss auf den chilenischen Metal-Stil genommen?

Julio: Ich denke, dass der chilenische Metal schon immer von der nordamerikanischen und europäischen Szene beeinflusst war, daher ist es schwer, einen eigenen Sound zu finden, aber der Einfluss unserer Geschichte findet sich in den Lyrics jeder Band wieder. Chile ist ein Land, das immer von externen Kräften dominiert wurde (der spanischen Krone, der britischen Industrie und aktuell der nordamerikanischen Wirtschaft) und Blutvergießen ist nichts neues für unsere Leute, daher ist die Wut und der Schmerz ein wiederkehrendes Thema in den Lyrics des chilenischen Metals und das ist auch der Grund, wieso die Musik so extrem geworden ist. Zudem hat unsere Geographie einen großen Einfluss auf den Sound der Bands. Während Santiago das Epizentrum des Mainstream, experimentellen und vielleicht komplexen Metals ist, sind der Norden und Süden die Wiegen des brutalen und rohen Sounds.

Malte H.: Wie ist die Infrastruktur der chilenischen Metalszene? Ist sie gut organisiert? Wie groß ist die Szene und wie sieht es mit Möglichkeiten aus, live auf Konzerten oder Festivals zu spielen?

Julio: Es gibt einige große und sehr viele kleine Organisationen, sie ist auf gewisse Weise gut organisiert, aber die Szene für richtige Bands ist sehr klein, da die Nachfrage nach Tribute Bands sehr hoch ist, zudem werden Bands von außerhalb hier sehr hoch bewertet, weshalb die Leute normalerweise kein Geld ausgeben, um richtige, regionale Bands zu sehen. All die großen Bands der Welt sagen, dass die chilenische Menge total verrückt ist, aber für uns ist die Menge gar nicht so verrückt. Wenn man eine neue Band hat, dann kann man mit viel Arbeit 2-3 Mal im Jahr live spielen, ist man älter, dann kann man 1-2 Mal im Monat spielen, sofern man übernatürlich dran arbeitet.
ABER ich denke, dass chilenische Bands stärker und besser bewertet werden, was der Arbeit von Leuten wie Australis Records und all den Webzines, die an uns glauben, zu verdanken ist.

Malte H.: Gibt es außer Australis Records noch andere große Labels in Chile? Und wie schwer ist es für eine chilenische Metalband, auf einem ausländischen Label unter Vertrag genommen zu werden?

Julio: Mittlerweile ist Australis Records das größte Label in Chile und ich denke, dass sie ca. 70 oder 80 Prozent der professionellen Bands unter Vertrag haben. Ich kenne sonst keine Labels mehr, die hier noch arbeiten, da ich daran aktuell nicht interessiert bin, aber ich weiß, dass es viele Underground Labels gibt, die lokale Bands unterstützen.
Ich kann wirklich nicht sagen, wie schwer es ist, von einem ausländischen Label unter Vertrag genommen zu werden, aber manchmal kommt es vor, dass ausländische Labels an chilenischen Bands interessiert sind, wie bspw. Endless Winter (Russland), die an Doom Bands wie uns (LAPSUS DEI), ENDIMION, ASTOR VOLTAIRES, AURA HIEMIS etc. interessiert waren oder Sun Empire aus Mexiko oder Rain Without End Records aus Kanada. Außerdem muss man international bekannt sein, um einen Vertrag mit einem großen Label zu bekommen (wie MAR DE GRISES mit Season of Mist) oder man muss einfach Glück haben und hochqualitative Musik machen.

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Malte H.: Was sind, deiner Meinung nach, die typischen Trademarks chilenischer Metal-Bands?

Julio: Brutalität, Wut oder Trauer und eine Menge “Spirit”.

Malte H.: Welche sind die einflussreichsten chilenischen Metal-Bands?

Julio: Für mich sind POEMA ARCANVS und MAR DE GRISES die einflussreichsten Bands. Sie sind ein Beispiel für Qualität und harte Arbeit.

Malte H.: Ich habe gehört, dass die chilenischen Metal-Fans die Verrücktesten in ganz Südamerika sein sollen. Kannst du erklären, wieso das so ist?

Julio: Ich glaube, dass es da so eine Art Kultur gibt, bei jedem Konzert jedes Stils laut zu sein, aufgrund unseres Haupt-“Mainstream”-Musik Events “Festival de Viña del Mar“, welches auch eine TV-Show mit über 30-jähriger Geschichte ist, wo die Menge als Zeichen für die Bestätigung oder Ablehnung des Künstlers auf der Bühne laut sein soll oder eben nicht. Das und der hohe Stellenwert ausländischer Bands sowie der Umstand, dass wir es nicht gewohnt sind, ausländische Bands willkommen zu heißen, weshalb die Leute versuchen, jeder Bands zu sagen: „Ihr seid die beste Band der Welt!“. Zudem sind die Headbanger hier sehr energisch und engagiert und sie sind stolz auf ihr Musikgenre, also suchen sie immer nach einem Ort, um zu sagen: „Metal ist die beste Musik der Welt!“. Das ist meine Erklärung, aber ich denke, dass sie vielleicht nicht so präzise ist.

Malte H.: Werden Metalheads in der chilenischen Gesellschaft akzeptiert?

Julio: Heutzutage werden Metalheads mehr akzeptiert, da wir sozialer und nicht mehr so wild sind, außerdem haben Metalheads akademischen Erfolg und eine größere Kultur, dadurch gibt es jedes Jahr mehr professionelle Headbanger im Land. Zudem tritt die katholische Kirche jedes Jahr etwas mehr aus der chilenischen Gesellschaft zurück. Dieser Old School Stereotyp Thrasher ist nicht mehr gängig für einen Großteil der Metalheads.

Malte H.: Wie ist deine Meinung zur südamerikanischen Metalszene im Allgemeinen?

Julio: VIELE Bands mit wenig Geld, ein paar mit Geld (also, erfolgreich), TAUSENDE von beschissenen Foreign-Copy-Bands (einige von denen haben Geld, die sind also auch bekannt) und eine GIGANTISCHE Underground-Szene. Also meine Meinung im Allgemeinen ist, dass es großes Potential gibt, aber es fehlt an Geld, um groß zu werden.

Malte H.: Wie ist das Leben in Chile heutzutage? Im Human Development Index (HDI) der UN hat Chile einen guten Rank, den besten in Südamerika. Wie hat sich die Szene in den letzten Jahren verändert?

Julio: Das Leben in Chile war immer hart, dieser an Nordamerika angelehnte Lifestyle ist auf gewisse Weise eine Dehumanisierung, wir haben vielleicht einen netten HDI, aber die Ungleichheit ist groß (wenn wir schon über Indizes und Statistiken reden, unser Gini-Koeffizient [statistisches Maß zur Darstellung von Ungleichverteilungen, Anm. d. Verf.] ist einer der höchsten der Welt). ABER die Mittelklasse ist mittlerweile größer und jede Dekade gewinnt die Klasse an Kaufkraft, weshalb der Zugang zu Informationen, neuer Musik und Musikinstrumenten die Metalszene vergrößert und sie wahrnehmbarer macht, dadurch kann mittlerweile fast jeder Informationen zur Musiktheorie, neuen Sounds, Experimenten und was so in der Welt gehört wird, erlangen; jeder Metalhead kann mit etwas Aufwand und einigen Studien seine eigene Musik erweitern, wodurch die Metalszene sich weiterentwickelt und es komplexere und experimentellere Bands gibt.

Malte H.: Fühl dich frei, den folgenden Platz dafür zu nutzen, alles über Chile, Metal und sonstiges Zeug zu schreiben, was durch meine Fragen noch nicht beantwortet wurde. ;) Außerdem danke ich dir für die Zeit und die Informationen, die du mit mir geteilt hast, um einen Artikel über die Metalszene deines Landes schreiben zu können! Cheers!

Julio: Chile ist manchmal ein liebenswürdiges Land. Wenn man all das liest, was ich so geschrieben habe, könnte man denken, dass Chile total scheiße ist, aber manchmal fühle ich mich stolz auf meine Leute und unsere Metalszene. Jede Band arbeitet sehr hart und die Ursachen für all die schlechten Dinge sind immer wirtschaftlich oder durch das „soziale System“ bedingt.
Ich danke dir für dein Interesse an unserem Land, ich denke, dass wir die Aufmerksamkeit anderer Länder brauchen, da es hier eine große Welle an neuen Sounds gibt, die wir anschieben wollen, damit sie die Aufmerksamkeit kriegt, die sie verdient.
Zudem ein großes Dankeschön an unser Label Australis Records und unseren Sponsoren: Thomastik Infeld, Sommer, MP Custom, Jef City Soldano.

 

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